Verklag deine Stadt: Wie wir bei inakzeptablen Versammlungsauflagen unsere Stadt verklagen können

veröffentlicht am 22. Juli 2024

Auch ohne juristische Fachsprache zu beherrschen oder eine Anwält*in zu beauftragen ist es möglich, kurzfristig und mit überblickbarem Aufwand Versammlungsauflagen wegzuklagen. In der Klimagerechtigkeitsbewegung hatten wir damit schon oft Erfolg. Es kann eine nützliche Ergänzung zum sonstigen Repertoire aus Aktionen selbst und Pressearbeit darstellen.

Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind etwa:

  • Fahrraddemos über die B17 und A96
  • Abseilversammlung über einer Brücke über der A9
  • Lautstärkebegrenzung bei einer Demo in Freiburg
  • Gewünschter Routenverlauf bei einer Demo in Heidelberg
  • Straßenkreide bei Kundgebung in Ravensburg

Misserfolge gab‘s natürlich auch:

  • Fahrraddemo über die A8 – trotz mehrerer Anläufe bislang nie geschafft
  • Straßenfest auf der B32 (Schussenstraße in Ravensburg)

Die formale Grundlage dafür, dass auch Laien ohne Fachsprache mit Eilanträgen Erfolg haben können, ist der Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsrecht. Dieser sieht vor, dass Verwaltungsgerichte sich eigenständig ein Bild der Lage machen und dabei auch Argumente beachten müssen, die von uns (oder der Versammlungsbehörde) mangels juristischer Expertise nicht oder nicht korrekt vorgetragen wurden. Dennoch sind Verwaltungsgerichte nicht die neutralen Wächter bürgerlicher Rechte gegen den Staat wie wir es im Sozialkundeunterricht lernen. Auch in vermeintlich eindeutigen Fällen werden Richter*innen immer wieder anders entscheiden – sei es aus politischen Gründen oder auch nur, weil sie beim Golfen gegen eine Kolleg*in verloren haben und dieser Person eins reindrücken möchten. Ein verlorener Eilantrag ist kein Beweis dafür, dass der Antrag schlecht war; umgekehrt müssen wir uns auch nicht als gerissene Jura-Profis feiern, wenn ein Eilantrag Erfolg hatte.

Zum Sprachgebrauch: Umgangssprachlich reden wir davon, „die Stadt zu verklagen“. Tatsächlich reichen wir aber keine Klagen ein (die Monate oder Jahre zur Entscheidung benötigen), sondern Eilanträge (die vor Versammlungsbeginn entschieden werden).

Welche Gründe gibt es, Eilanträge einzureichen?

  • Um zu gewinnen: eine unliebsame Auflage aufzuheben und so mit Versammlungsrecht den gewünschten Protest ermöglichen zu können.
  • Um Presseaufmerksamkeit auf ein bestimmtes Thema zu lenken – kann auch super in Fällen funktionieren, bei denen die Erfolgsaussichten gering sind! (So etwa in Augsburg bei den A8-Fahrraddemo-Versuchen, die überregionale Berichterstattung hervorbrachten. Wenn das Ordnungsamt die Demo einfach erlaubt und es keine juristische Auseinandersetzung gegeben hätte, hätte es vermutlich sogar weniger Presseaufmerksamkeit gegeben.) Anders als Berufspolitiker*innen kann es uns ja oft ziemlich egal sein, in der Presse „schlecht“, als „Verlierer“, dazustehen.
  • Um an verschlossene Behördenakten zu kommen.
  • In inhaltlich weniger wichtigen Fällen als Skillshare, um mehr Menschen in die Eilantragsbubble zu bringen.

Mit welchen Kosten ist zu rechnen?

Wenn wir gewinnen, dann gar nichts, und wenn wir verlieren, dann in den meisten Fällen höchstens etwa 180 €. Der genaue Betrag errechnet sich nach als einen bestimmten kleinen Anteil des fiktiven Streitwerts, den das Gericht festsetzt, und der meist 5.000 € beträgt. Dieser Streitwert ist rein fiktiv, er muss nicht gezahlt werden!

Wie sieht so ein Eilantrag aus?

  • In der Telegram-Gruppe „Versammlungsrecht Austausch“ finden sich zahlreiche Beispiele für erfolgreiche und nicht erfolgreiche Eilanträge, die als Orientierung dienen können.
  • Nach einem Deckblatt, das (Achtung!) je nach Bundesland anders formuliert sein muss, folgt eine inhaltliche Begründung. Die sollte so verfasst sein, dass der mutmaßlich 60-jährige männliche Richter den gesamten Vorgang versteht und idealerweise euren Antrag überzeugend findet.
  • Im Anschluss folgenden noch Anlagen: die Versammlungsanzeige, der schriftliche Auflagenbescheid der Versammlungsbehörde sowie etwaige Zeitungsartikel, Statistiken oder andere Quellen, die vom Hauptteil herangezogen werden.
  • Unterschrift am Ende (nach der Begründung, vor den Anlagen) nicht vergessen.
  • Außerdem eine Faxnummer für den Empfang von Schriftsätzen des Gerichts nicht vergessen. Kaum wer von uns hat ein Fax-Gerät zu Hause; es kann das Online-Fax vom Augsburger Klimacamp verwendet werden oder aber (zum Beispiel) auf simple-fax.de zurückgegriffen werden.
  • Anders als Angeklagte vor Strafgerichten dürfen wir in Eilanträgen nicht lügen, wobei die Verfasser*innen dieses Texts ehrlicherweise nicht wissen, welche Konsequenzen in diesem Fall drohen. Es ist aber möglich, durch geschicktes Framing oder Schwerpunktsetzung die eigenen Argumente überzeugender zu formulieren. Die Versammlungsbehörde wird von dieser Möglichkeit auf jeden Fall Gebrauch machen (und den Untergang des Abendlands herbeibeschwören, wenn dem Eilantrag stattgegeben würde).

Auf welche Argumente können wir uns im Eilantrag stützen?

  • Hängt vom Einzelfall ab. Grundsätzlich alles, was bei 60-jährigen männlichen Richtern erfolgversprechend aussieht.
  • Ein wichtiger Themenkomplex wird meist der tiefe innere Zusammenhang aus Versammlungsthema und Versammlungsort (und ggf. Versammlungszeitpunkt) haben.
  • Ein anderer Themenkomplex kann die Folgen für Dritte sein, etwa dass zu der Zeit sowieso nur wenig Autos auf der Straße unterwegs sind etc.
  • Ansonsten können wir einfach die (oft absurden) Behauptungen der Versammlungsbehörde in ihrer Auflagenbegründung Stück für Stück auseinandernehmen. Mindestens eine der Verfasser*innen dieses Texts versucht dabei, auch die Macht von Framing zu nutzen, anstatt nur die Behauptungen negiert wiederzugeben. Etwa „Genügend Platz ist vorhanden“ oder „Die Fahrbahn bleibt sauber“ statt „Es stimmt nicht, dass es zu wenig Platz für die Versammlung gäbe“ und „Anders als behauptet ist mit Fahnbahnverunreinigung nicht zu rechnen“.

Wie ist der Ablauf?

  1. Widerspruch bei der Versammlungsbehörde einreichen (kann im Wortlaut dieselbe Begründung wie beim Eilantrag haben, nur das Deckblatt ist ein anderes). Der Widerspruch hat aber in den meisten Fällen keine aufschiebende Wirkung (sonst könnten wir uns den Gang zum Gericht sparen). Geht, wie auch der Eilantrag selbst, nur per Fax oder Vorbeibringen/Post.
  2. Eilantrag beim Gericht einreichen. Verwaltungsgerichte können grundsätzlich auch am Wochenende arbeiten (wie sehr Wochenendarbeit die Erfolgsrate bei unseren Eilanträgen beeinflusst, ist den Verfasser*innen dieses Textes unklar). Die Geschäftsstelle, die zur Zuordnung der eingehenden Eilanträge auf die Richter*innen zuständig ist, schließt aber in vielen Städten freitags schon um 14:00 Uhr. Später eintreffende Faxe werden also erst am Montag gelesen. In besonders dringenden Fällen kann in manchen Städten über die Polizei (Gewaltenteilung?!) das Verwaltungsgericht erreicht werden.
  3. Nach einer Eingangsbestätigung wird das Gericht die Versammlungsbehörde auffordern, eine Stellungnahme abzugeben. Die wird uns auch zugeleitet (sofern wir den entsprechenden Passus im Deckblatt des Eilantrags nicht vergessen haben). Außerdem erhalten wir Einblick in die Behördenakte, wenn wir das beantragt haben.
  4. Wenn die Stellungnahme der Versammlungsbehörde vorliegt und die Zeit es zulässt, können wir dazu oft eine Replik verfassen. Oft wiederholt die Versammlungsbehörde aber nur, was sie schon im Bescheid formuliert hat. Nicht verwirren lassen: Die versammlungsbehördliche Stellungnahme kann – nicht zuletzt aufgrund des gerichtlichen Briefkopfes – auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als handele es sich bereits um die gerichtliche Entscheidung.
  5. Irgendwann folgt der Gerichtsbeschluss (umgangssprachlich „Urteil“). Gelegentlich erhalten wir auch einen Anruf vom Gericht oder von der Versammlungsbehörde, in dem uns erklärt wird, dass die Versammlungsbehörde „freiwillig“ ihre Auflage zurückzieht (etwa um einen für die Behörde negativen Gerichtsbeschluss abzuwenden, keinen gerichtlichen Präzedenzfall zu schaffen, auf weniger Presseaufmerksamkeit zu hoffen, …).
  6. In den meisten Fällen ist es möglich, einen negativen Gerichtsbeschluss durch Gang in die höhere Instanz (dem zuständigen Verwaltungsgerichtshof) anzufechten. Vor dem VGH ist aber die Vertretung durch eine Rechtsanwält*in gesetzlich vorgeschrieben. Außerdem können höherinstanzliche negative Gerichtsbeschlüsse ungünstige Strahlwirkung haben. Deswegen ist es sowohl schwieriger als auch risikoreicher, zum VGH zu ziehen. Ein Blick auf die Parteizugehörigkeit des VGH-Präsidenten kann ein Indikator für die Entscheidung sein. Einer der Verfasser*innen dieses Texts findet, dass wir zu oft den Gang zum VGH scheuen und es häufiger versuchen sollten. Nach dem VGH ist nur noch die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich.
  7. Einige Tage oder Wochen nach dem Gerichtsbeschluss kommt ggf. noch eine Rechnung. Nicht von dem hohen Streitwert von 5.000 € verwirren lassen, die tatsächlichen Gerichtskosten liegen im niedrigen dreistelligen Bereich.
  8. Gerne über die Erfahrungen in der Telegram-Gruppe „Versammlungsrecht Austausch“ berichten und die Schriftsätze (insbesondere den Eilantrag und den Gerichtsbeschluss) teilen, damit wir als Bewegung lernen können. Die Gruppe kann auch schon in die Eilantragsstellung eingebunden werden.

Wie lange dauert so ein Eilverfahren?

Die Entscheidung kommt in der Regel vor Versammlungsbeginn. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass bei einer Versammlung am Freitag und einer Eilantragsstellung am Montagmorgen die Entscheidung meist so etwa am Mittwoch kommt, also nach zwei Tagen. So besteht grundsätzlich noch Zeit für den Gang in die zweite Instanz. Die Entscheidung kann aber auch schon am gleichen Tag kommen oder länger dauern.

Tricks

  • Wenn die Sorge besteht, dass die Versammlungsbehörde den Auflagenbescheid erst kurz vor knapp übersenden wird, dann in einer gemeinsamen Versammlungsanzeige zwei Termine, zum Beispiel eine Woche voneinander entfernt, anmelden. Der Bescheid kommt dann kurz vor dem ersten Termin, bezieht sich aber (meist) auch auf den zweiten. Sobald der Bescheid da ist, den ersten Termin absagen (das kostet nichts).
  • Es kann Sinn ergeben, auch gegen Auflagen vorzugehen, an denen wir eigentlich nicht besonders interessiert sind, wenn diese besonders unhaltbar erscheinen. So wird das (ohnehin schon ziemlich begrenzte) Kostenrisiko weiter reduziert, denn dann ist zumindest ein partieller Sieg wahrscheinlich. Kann auch für Pressearbeit nützlich sein („Klage von Klimaaktivist*innen: Stadt erhält Klatsche von Gericht“).
  • Insbesondere um sich gegen einen möglichen negativen Ausgang des Gerichtsverfahrens ein Stück weit abzusichern, kann es sinnvoll sein, den Prozess offensiv in die Presse zu tragen. So können wir selbst dann öffentliche Aufmerksamkeit auf unsere Themen lenken, wenn wir schlussendlich verlieren sollten und unsere Demonstration nur wie beauflagt durchführen können.
    • „Nach Verbot der geplanten Fahrraddemo über Autobahn XY: Aktivist*innen verklagen Stadt“
    • „Verwaltungsgericht nimmt Eilantrag zur Entscheidung an“ (das wird es eigentlich immer, kann für die Presse aber trotzdem spannend sein)
    • „Schlappe für Stadt: Klimaaktivist*innen erhalten Zugang zu bislang verschlossenen Behördenakten“
    • „Verbot der geplanten Verkehrswendedemo über Autobahn A8: So rechtfertigt sich die Stadt vor Gericht“

Unterstützungsmöglichkeiten

  • Telegram-Gruppe „Versammlungsrecht Austausch“
  • Falls das Kostenrisiko von den rund 180 € abschreckt, kann dort auch nachgefragt werden, ob Solikassen zur Verfügung stehen, die bereit sind, das Risiko zu übernehmen. In der Vergangenheit haben (mindestens) das Augsburger Klimacamp und die Alti-Waldbesetzung oft gerne das geringe Risiko übernommen (und andere Initiativen sicherlich auch, das haben die Verfasser*innen dieses Texts nur nicht unbedingt mitbekommen).

Referenzen

  • https://projektwerkstatt.de/index.php?domain_id=1&a=12411